Devan glaubte nicht daran, dass gute Taten irgendwann auf einen zurückfielen und sich ausbezahlten. Er hatte Menschen gesehen, die genau im Gegenteil handelten und so viele unschuldige Menschenleben auf dem Gewissen hatten, dass drei Leben nicht reichen würden, um ihre Schuld abzubezahlen; und doch beschritten sie immer noch die gleichen Wege und lachten dasselbe Lachen. Eine Tat definierte nicht die persönliche Zukunft, sie war ausschlaggebend für das Gleichgewicht dieser Minute, dieser Sekunde. Wenn ein Mensch starb, dann waren es nicht die vergangenen Taten, die ihn vor Heofader oder anderen Göttern reinwuschen; es war das Unterbinden seiner Taten, das sein Umfeld beeinflusste. Jede Tat verlief ins Nichts, genau dort, wo ihr Weg sie alle eventuell hinführen würde. Wenn er also einen Skorpion seinen Weg passieren ließ, dann erwartete er nichts. Es war nur ein weiteres, winziges Gewicht, das das Leid der Welt in diesem Moment ausbalancierte.
Jahre des Trainings hatte er gefüllt mit diesem Verständnis, und doch hatte die junge Frau vor ihm nie richtig verstehen können, was es hieß, einen Skorpion leben zu lassen. Es war kein Akt ihm zuliebe, ihrem Lehrer, sondern setzte ein Bild voraus, das sie vor ihren Augen zwar sah, es aber nie hatte berühren können. Devan nahm die Hand von ihrer Schulter, als der Skorpion im Sand verschwand. Manchmal fragte er sich, ob er nicht einen Fehler gemacht hatte.
Seine Augen ruhten nun auf dem Felsen, groß und beständig, wie er sich aus seinen kleinen Brüdern abhob und den beiden Wanderern den Weg versperrte. Auch aus dieser Nähe leuchtete die Oberfläche glatt und ließ kaum Vorsprünge erkennen, die sich Finger und Füße zu nutzen machen könnten. Er war hoch genug, dass ein Fall vor dem Ziel einen sicheren Tod bedeutete und Devans forschende Augen, sein Kopf etwas in den Nacken gelegt, ließen erkennen, dass er abwägte, ob es das wert war. Nicht nur in ihrer Denkweise unterschied Zariyah sich von ihm. Ihr Körper war der einer Tänzerin, lang und gelenkig - seiner war der eines Geparden, kompakt und sehnig. Ihre Erfahrung war ihren Fingern anzusehen, die sich in Erinnerung an den richtigen Stein klammern würden, während sie sich an die Mauer pressen und eins von ihm wurde. Sein Verstand sagte ihm, dass er alleine niemals den Versuch wagen würde, im trügerischen Halbschatten einen Felsen zu erklimmen, der genau für den Tod gemacht zu sein schien, den er hier mitten in der Wüste ausstrahlte. Aber auch zwischen seinen Fingern kribbelte die Erinnerung; ein dunkler Faden, der sich durch seine Blockade zog und erzitterte, als Devan sein Gewicht verlagerte.
“So sieht es aus”, antwortete er und schob den Stoff von Mund und Nase unter sein Kinn, in seinem Blick der Entschluss, den seine Worte nur wiedergaben. Was ihm fehlte, strahlte sie in doppeltem Maße aus; der Funke an Lebendigkeit, der durch Zariyahs Adern zuckte und die feinen Muskeln unter den Stofflagen aktivierte. In ihm zeigte sich nur das mentale Schulterzucken auf die innere Frage, ob er den Aufstieg überleben würde. Wenn nicht, dann war die Welt einen anderen Menschen los, der viele Leben auf dem Gewissen hatte.
Niemand würde nach zehn Jahren noch nach dem Mann fragen, den Zariyah alt nannte. Es war sein Name, der sich durch die Straßen trug, während die Frau vor ihm wie so oft damit kämpfte, dass er ihren Humor, so wie jeden anderen Humor, nicht vollständig nachvollziehen konnte. So zog er nur eine Augenbraue in die Höhe und war kurz davor, sie darüber zu belehren, dass er noch nicht unter die Definition
alt zählte, ließ es dann aber bleiben und schob sich an ihr vorbei, um den Felsen von nächster Nähe aus zu betrachten.
“Ich werde neben dir klettern. Sollte ich fallen, kannst du am schnellsten reagieren.” Ganz bewusst erwähnte er nicht die Möglichkeit, dass es auch Zariyah sein könnte, die einen falschen Fuß setzte, erschien dies im Vergleich zu seinem Fehlverhalten doch weitaus geringer. Er ließ auch gar nicht erst den Gedanken zu, dass dies eine Art Wettkampf sein würde - längst waren sie über den Zeitpunkt ihres Trainings hinaus, dass sie sich gegen ihn und nicht mit ihm behaupten musste. In seinen Augen hatte er ihr längst alles beigebracht, in vielen Bereichen übertraf sie ihn sogar. Es lag nun an ihr, seine Philosophie anzunehmen oder nicht.
Abwesend verstärkte Devan den Hand der Bandagen um seine Handflächen, ließ seine Finger aber unbandagiert, da er sie zum Fühlen brauchte. Er zog auch seine Schuhe aus, die zur Wüstenwanderung und nicht zum Klettern gemacht waren. Ein Bild, das ihn hin und wieder aufsuchte, kletterte aus den Schatten wie die wunden Füße eines Jungen, der darauf angewiesen gewesen war, die Rinde eines toten Baumes zu erklimmen. Ohne weitere Worte streifte er die Felswand entlang und legte schließlich die rechte Hand an einen kleinen Vorsprung. Sein Blick wanderte zu Zariyah, ein letztes, stummes Abstimmen, dann stemmte er seinen Fuß gegen die Mauer und stemmte sich hoch.
Es war kein Kräftemessen, wie es der kurze Lauf von Stadttor zu Stadttor war, sondern ein Marathon. Wer seine Kräfte nicht einzuteilen wusste, würde nie das Ziel erreichen, das über ihren Köpfen kokett vom Mondlicht beleuchtet wurde und sie zu verspotten schien. Oder vielleicht war es auch die Herausforderung, der er sich endlich stellen musste, eine stumme Frage der Natur, ob er es wert war. Mit ebenem Atem blendete er den Wind aus, der in der Höhe an dem Felsen vorbei schnitt, und den schmerzenden Druck in seinen Fingern, die einerseits von der Anstrengung und andererseits von der überraschenden Kälte kamen. Mit jedem griff nach oben fühlte er die Biegung des Steins und passte seinen Atem der Wölbung an, während er mit dem Tempo von Zariyah weiter nach oben glitt. Das, was sie ausmachte, waren nicht zwei Menschen, sondern eine Einheit, die an einem Strang zog. Die Zukunft lag vor ihnen, ein Leben ohne die Gewalt eines Königshauses, und die Gegenwart hatten sie fast erreicht.
Es war ein Atemzug zu viel, der Devan verließ, als er merkte, wie sein Fuß über den winzigen Vorsprung rutschte und sein Gleichgewicht gefährlich nach unten riss. Eine Bewegung, die in Zariyahs Augenwinkel schnell vonstatten gehen musste, als er seinen Halt für einen winzigen Augenblick verlor und seine Hand die Sicherheit des Felsens aufgeben musste. In einem Moment der Unsicherheit hielt Devan sein ganzes Gewicht in seiner rechten Hand, deren Knöchel vor Anstrengung weiß hervortraten.