03-07-2024, 19:55 - Wörter:

Ein letzter, prüfender Blick glitt über das glänzende Fell und die geölten Hufe. Auch die Eisen sahen gut aus und Lindgard musste wieder einmal feststellen, dass der Stallmeister Wintergards hervorragende Arbeit leistete. Zwar hatte sie sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass es nicht gern gesehen war, dass sie Atlas selbst zäumte und sattelte, wie sie es in Wolfsmark zu tun gepflegt hatte, doch sie fügte sich den neuen Regeln. Als Ehefrau des Zweiten in der Thronfolge konnte sie von Glück sagen, dass sie noch ihre geliebten Reithosen tragen durfte und nicht im Kleid in den Damensattel genötigt wurde.
Als sie sich anschickte aufzusteigen, übersah sie geflissentlich die unbeholfene Bewegung des Stallburschen, der instinktiv behilflich sein wollte. So, wie er abrupt erstarrte, war sich die Prinzessin sicher, dass er detailliert über ihre Gewohnheiten unterrichtet worden war. Und diese beinhalteten auch, dass hierbei keinerlei Hilfe benötigte – schon gar nicht von Menschen, die ihr nicht nahestanden. So geschickt wie routiniert erklomm sie ihr Pferd und grub schließlich ihre linke Hand tief unter das fellbedeckte Sattelleder, um die Gurte ordentlich nachzustellen, während ihre Rechte die Zügel locker aufnahmen. Atlas indes ließ all dies lammfromm über sich ergehen und spielte lediglich aufmerksam mit den Ohren, als der ebenso ein wenig zu groß geratene Rüde mit dem struppig-dichten Fell in einem gemächlichen Trab den Innenhof betrat. Lindgards Miene hellte sich merklich auf. »Und ich dachte schon, du lässt mich im Stich«, kommentierte sie Flokis Auftauchen und tätschelte indes ihrem Schimmel beruhigend die Schulter, da dieser vernehmlich zu grummeln begann, als ein weiterer Bediensteter den Rappen ihres Ehemannes aus der Stallgasse führte. Also konnte auch Jorin nicht weit sein.
Der Gedanke an ihren Ehemann, den glorreichen Sieger des Eisfeuerfestes, entfachte ein zartes Kribbeln in ihrer Magengrube. Bilder, wie er Runde um Runde des Axtkampfes überstand und es sie zum Schluss buchstäblich von ihrem Stuhl riss, um die letzten Augenblicke hautnah zu erleben, die schlanken Finger aufgeregt um die Holzbalustrade geklammert, tauchten vor ihrem inneren Auge auf und ein leises Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Heute hatte sie sich wieder besser im Griff als in jenem Augenblick, in dem sie voller Leidenschaft in den tumultartigen Jubel und die Anfeuerungen der Menschenmenge eingefallen war. Sie war den überraschten, wenn nicht sogar irritierten Blicken der Umstehenden erst ein wenig zu spät gewahr geworden und so mochte der ein oder andere Beobachter nicht umhingekommen sein, eine errötende Prinzessin zurück auf ihren Platz sinken zu sehen.
Schwere Schritte und die volltönende Stimme ihres Gemahls ließen sie auftauchen aus den Erinnerungen an das vergangene Wochenende. Sie korrigierte ihren Sitz und nahm die Schultern zurück, während sie die hübschen Handschuhe aus seidenweichem Hirschleder überzog, die Jorin ihr zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Sie war durchaus überrascht von seinem aufmerksamen Wesen gewesen, geschmeichelt davon, dass er bemerkt hatte, dass ihre alten Reithandschuhe ihren Zenit längst überschritten hatten. Doch ihm diese Dankbarkeit auch zeigen, das war ihr viel zu schwer gefallen. Frustration über die eigene Unzulänglichkeit ließ ihre Miene auch heute wie so oft abweisender werden, als es beabsichtigt gewesen war. Der gewohnt reservierte Gesichtsausdruck zierte ihre Züge, als Jorin schließlich den Innenhof betrat.
Ein leiser, aber scharfer Befehl holte Floki an ihre Seite, der in Gegenwart des Prinzen stets eine gewisse ... dominante Penetranz an den Tag legte und sich in aller Seelenruhe mitten in den Laufweg Jorins gelegt hatte, ohne zu beabsichtigen, von allein auch nur einen Zoll zu weichen. »Ich möchte gerne zum Fluss reiten«, wandte sie sich schließlich an ihren Gatten, gönnte ihm jedoch lediglich einen kurzen Blick, bevor sie sich um ihre Zügel kümmerte, die offenbar dringend sortiert werden mussten. »Ich möchte sehen, ob es die Lachse schon zu uns geschafft haben.« Sie liebte den Anblick der schillernden Fische, die in der Zeit der Ernte größte Anstrengungen auf sich nahmen, bis zur Entkräftung gegen den Strom schwammen, nur um in den eiskalten Gewässern Norsteadings ihren Laich ablegen zu können. »Solltest du jedoch etwas anderes geplant haben, ist das auch in Ordnung.« Und da war sie wieder, die mittlerweile so typisch gewordene Indifferenz.