07-11-2024, 21:14 - Wörter:

Und doch stand sie nun vor ihm, und in ihren Augen spiegelte sich eine Überraschung, die seine eigenen Gefühle widerspiegelte. Nur war sie gefasster. Freundlicher. Weniger plump. Es war ein Zufall, ein wahrhaft seltsamer Zufall, den das Schicksal für sie beide vorgesehen hatte, dass sie sich nach all den Jahren genau hier, an diesem Hafen im rauen Herbstland, wieder begegneten. Wie war sie wohl geworden? Hatte sie das ehrwürdige Amt der Priesterin erreicht? Oder hatte sich ihr Leben anders geformt, in eine Richtung, die sie vielleicht nie für möglich gehalten hätte? Und wie erging es ihrer Familie? Ihren Eltern? Ihren Geschwistern? So viele Fragen brannten in seinem Inneren, Fragen, die ihn wie ein Sturm zurück in die Vergangenheit rissen. In eine Zeit, in der er selbst noch von unermesslich großen Träumen sprach, als der Horizont weit und die Möglichkeiten endlos schienen.
Damals, als er noch ein Junge war, war der größte Traum, den er hegte, der des Ritters, der edlen Krieger, der sich an die Seite der Kaufleute stellte und auf den weiten, gefährlichen Wanderungen Schutz bot. Er hatte sich eine glänzende Rüstung und ein Schwert aus Stahl vorgestellt, ein Schwert, das die Ehre seines Volkes und die Sicherheit der Unschuldigen verteidigte. Doch jene Träume, die ihm als Jugendlicher so unendlich und verlockend erschienen waren, waren längst zu Staub zerfallen. Das Leben hatte ihn auf einen anderen Pfad geführt – einen dunkleren und härteren.
Doch er wusste, dass er nicht in Selbstmitleid versinken durfte. Es war nicht seine Art, sich von der Schwäche der Verzweiflung ergreifen zu lassen. Er hatte sich stets der harten Realität gestellt, und auch jetzt, im Angesicht dieses unerwarteten Treffens, würde er sich dieser nicht entziehen.
Er betrachtete sie – Natürlich war sie nicht mehr das junge Mädchen von einst, doch es war ein natürlicher Wandel, eine Reife, die ihr gut stand und ihr etwas Anmutiges verlieh. Im Gegensatz dazu wirkte er selbst, obwohl er weniger Jahre zählte, wie ein Mann, den der Zahn der Zeit viel härter angegriffen hatte. Gelebte Jahre, harte Jahre, die ihre Spuren hinterlassen hatten. Aber war das nicht der Lauf der Dinge? Die Zeit machte aus allem, was sie berührte, etwas anderes. Vielleicht waren sie beide nicht mehr die Menschen, die sie einst gewesen waren, doch auch in ihrer Veränderung lag eine eigene, stille Schönheit.
„In der Tat, ich war noch ein Knabe, als wir uns das letzte Mal begegneten“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Ich hoffe, das Leben hat es gut mit dir gemeint.“ Ein Lächeln zog sich über seine Lippen, etwas deutlicher als zuvor. Sie wirkte jedenfalls nicht so, als hätte das Leben ihr schwer mitgespielt.
