Gerne würde Leif behaupten, dass er doch mindestens mit den Tränen anderer umzugehen wusste, wo sich doch selbst keine in seinen Augenwinkeln sammelte, aber angesichts Aleenas Tränen fühlte er sich genauso hilflos wie mit seinen eigenen. Er war kein Mann, der Traurigkeit so einfach zum Ausdruck brachte, und
Freudentränen waren ihm sowieso schon immer suspekt gewesen. Dass man weinte, wenn man doch eigentlich vor Glück lachen sollte, lag so fern seiner Vorstellung, dass er im ersten Moment nicht ganz wusste, ob er den Worten seiner Frau Glauben schenken sollte, während sie seine Schulter nässte. Aber zum ersten Mal spürte er auch, was sie damit wohl zum Ausdruck bringen wollte. So wie er sie im Arm hielt, fast so, als wäre er die einzige Stütze, um sie am brechen zu hindern, zog sich etwas in seinem Zwerchfell zusammen, das ihm schlussendlich die Kehle zuschnürte. Als er sprechen wollte, versagte ihm seine Stimme, dass er sich erst räusperte, bevor er es erneut versuchte.
„Endlich“, wiederholte er ihre Worte nur wie ein verdammter Hofnarr, die Stimme rau und roh, als hätte er sie tagelang nicht genutzt. Seine Hand glitt auf ihren Hinterkopf, wo er sie hielt, bis raue Lippen die Finger ablösten und er ihr Haar küsste — auch diese Geste ein erstes Mal zwischen dem ungleichen Paar. Ein Nicken auf ihre nächsten Worte, gefolgt von einem Leiden, fast lautlosen Lachen.
„Wieso fällt mir sowas nie auf.“ Sobald sie ihn ließ, löste er sich von ihm, seine Hände in ihr Haar fassend, dass seine Daumen auf ihren Wangenknochen lagen. Und wieder schaute er sie so an, als würde er sie zum ersten Mal wirklich sehen; als würde er sich bestätigen wollen, dass sie zugenommen hatte.
„Du sollst so viel essen, wie du willst. Und wenn das ganze Bankett leer ist, dann sollen die Köche das Feuer wieder schüren.“ Immerhin aß sie für Leifs Sohn mit. Seinen Sohn! Er würde selber für sie jagen und einen Hirsch erlegen gehen. Der erste Bärenkopf über der Krippe seines Erben würde von ihm getötet und ausgestopft werden. Er würde eigenhändig die erste Axt seines Sohnes aussuchen. Seine kühlen blauen Augen waren meistens warm und kräftig, aber heute leuchteten sie besonders bei jedem Gedanken an das, was noch vor ihm - vor ihnen - lag.
Valda hatte er kennen gelernt, da hatte sie ihm schon bis zur Kniescheibe gereicht. Bei seinem Sohn würde er sichergehen, dass er alles richtig machte.
In einer Mischung aus seiner bekannten Grobschlächtigkeit und einer ungewohnten Sanftheit strich er Aleena mit seinen Daumen die Tränenspuren von den Wangen. Ihre letzten Worte hinterließen, ohne, dass sie es wusste, einen dumpfen Stich in seiner Brust, den Leif hingegen mit einem Kopfschütteln überdeckte.
„Ich habe es dir sicher nicht einfach gemacht.“ In anderen Worten: Er
hatte sie aufgegeben; lange vor diesem Morgen, vor der letzten Nacht, vor den letzten Versuchen, die er am liebsten vergessen wollte. Und auch jetzt, wo er ihr direkt in die Augen sah, verspürte er keinerlei körperliche Anziehung; doch die neue Situation zwischen ihnen gab ihm Hoffnung, dass sie diese Ebene vielleicht gar nicht miteinander teilen mussten, damit es funktionierte. Ein Kind konnte eben jene Lösung für dieses Problem sein und Leifs warmes, von Herzen kommendes Lächeln zeugte davon, dass er bereit war, es zu glauben.
Es wäre auch nicht Leif, wenn er nicht auf seine Art versuchte, aus der emotionalen Geschichte wieder rauszukommen, so wie er eine Hand von ihrem Gesicht fallen ließ und prompt auf ihren flachen Bauch legte.
„Kann man schon was spüren?“ Der Schalk in seinen Augen ließ überhaupt keine Zweideutigkeit zu. Wenigstens war es nicht das erste Mal, dass Leif in Zweisamkeit mit Aleena wirklich und ehrlich zu Scherzen aufgelegt war.