[Nadir ben Sahid]

Wie unterschiedlich die Leben doch waren, die die Königin und er führten; die der König, sein Bruder, und er führten. Er beneidete sie nicht, sie ihn jedoch schon. Wenngleich er sich immer schon fragte, ob das Leben Nadirs etwas für den König gewesen wäre. Nahm man ihm seinen Titel und gab ihm die Möglichkeit, so zu leben - er glaubte nicht, dass Ridvan Spaß daran hätte. Zu viel ... Freiheit, zu viel 'in den Tag hineinleben', kaum Struktur, keine Routinen. Manchen würde womöglich etwas fehlen, ja, Ridvan in jedem Fall. Yasirah hingegen, hm? Wenn er sie sah, sah er vielmehr einen gefangenen Vogel, die so viel mehr vom Leben wollte. Mit einem verschmitzten Lächeln sah er die Königin an.

"Oh, so sollte ich wohl mal mit Euch und meiner Frau würfeln, vermute ich?"

Eine angeregte Fantasie, ja, aber eher eine theoretische. Doch so gänzlich kam er nicht von der Vorstellung los:

"Ihr würfelt, meine Königin?"

, fragte er interessiert - er würde gerne hören, wann und wie. Manchmal - vielleicht nur einen Tag - würde er Yasirah gerne das Leben in Freiheit präsentieren; ihr zeigen, was sie alles verpasste, um es wenigstens ein einziges Mal zu kosten. Doch wie Yasirah feststellte: Wählte man ein anderes Leben, verlor man anderes. Womöglich verpasste er in einem anderen Leben auch vieles, das ihm sein Lebensstil verwehrte.

Geschichten und Legenden übertrieben natürlich maßlos, doch er war überrascht über Yasirahs Reaktion - und sah dann auch die Frau, die im Käfig gefangen war; die nicht das sah, was er sah. Auch Nadir war nun weit weg von einem volksnahen Samariter, aber er mischte sich durchaus unter das einfache Volk. Sie hörte ihm gebannt zu.

"Nun, womöglich habt ihr bisher die falschen Bettler getroffen."

, witzelte er mit charmantem Lächeln und war doch gespannt auf ihre Reaktion, immerhin ahnte er nicht annährend etwas von ihren Geheimnissen. Kein Bettler zwar, ja, aber eine Affäre, die ihren Geist und ihren Körper besser befriedigte als ihre Ehe. Nadir würde zwar der letzte sein, der sie dafür verurteilte - er glaubte nicht mal, dass er selbst standhaft genug wäre, wenn Yasirah ihn verführen oder bitten würde - aber sie war gewiss gänzlich anderen Aufmerksamkeiten gewidmet. Und so blieben die Fantasien, die sie füreinander hegten, ebendiese. Die Skandale störten Nadir zwar nicht, aber seinen Bruder mit seiner Ehefrau - der Königin - zu betrügen, nun, das wäre wohl durchaus eine Legende, die die beiden nicht mehr erzählen würden. Aber ja, die Reize waren da - kleinste Kommentare, Spitzen, Blicke - mehr nicht, aber doch genug.

Er lauschte ihr gebannt. Das konnte Nadir. Bei all seiner extrovertierten, offenen Art: Er war kein Schwätzer, sondern ließ sich stets auf seinen Gegenüber ein, weshalb er wohl gerade Charme und Nähe ausstrahlte.

"Es gäbe wohl genug, die Euch um Euer Leben beneiden würden, meine Königin."

, sagte er nachdenklich.

"Ich tue es nicht, habe es nie getan. Mein Bruder war nie der Mann, der bereit war, mich auf meine nächtlichen Abenteuer zu begleiten. Ihr wärt anders gewesen, hm?"

, fragte er doch interessiert über mögliche 'Was wäre wenn-Szenarien'.

"Ein Wort und ich verschaffe euch Zugang zur Gauklerin und zu Piraten."

Ein Augenzwinkern folgte.
Nadir versuchte die Stimmung zu erhellen, doch die dunklen Wolken waren nicht grundsätzlich wegzuschaffen. Er schaute an ihr herab, als sie sagte, er hätte was, was sie nicht hat.

"Oh, ich bezweifle, dass ich etwas habe, was Ihr nicht habt. Ihr habt von allem mehr als ich."

Doch sein Blick löste sich, wanderte dann durch den Garten.

"Denkt Ihr, er wäre mir gegenüber gesprächiger?"

Ihre Bindung war nun nicht die beste, ein klärendes Gespräch wurde gemieden, wenngleich es oft so schien, als hätten sie das Kriegsbeil begraben.

"Aber wenn Ihr wünscht, versuche ich es. Schaden kann es nicht, hm? Wenn ich mit Piraten und Gauklern zurechtkomme, dann auch mit einem König."

Was seine Frau heute Abend tun würde? Nadir lachte auf.

"Bevor sie unzüchtig wird oder währenddessen?"

Eine berechtigte Einordnung.

"Dann hoffentlich mit mir. Und vielleicht dem Piraten, den hat sie etwas zu lange angeschaut."

Wie ernst das gemeint war, ließ er zunächst offen. So oder so würde er wohl auch Yasirah ein Leben dieser Art vollends wünschen - oder dass sie es zumindest mal kostete. Doch er versuchte eine gewisse Ernsthaftigkeit in seine Antwort zu bekommen.

"Wahrscheinlich kann ich Euch wahrlich keine Antwort geben, weil ich - wir - es nicht wissen. Tanzen wir heute Abend? Speisen wir gemeinsam? Zogen wir durch die Gassen? Besuchen wir die Bordelle? Womöglich kann heute noch alles passieren."

Nachdenklich sah er zu ihr.

"Und Ihr? Wie verbringt Ihr Euren Abend?"