14-04-2024, 15:55 - Wörter:
sometimes its not the song that makes you emotional... its the people you sing with

Wenn Lester sich für eine Tageszeit entscheiden müsste, die er am liebsten hatte, dann würde er wohl die Mittagszeit wählen. Nachdem die Pflichten am Vormittag abgearbeitet waren, konnte er sich zurückziehen, seine Gedanken schweifen lassen, für sich spielen, schlafen oder mit Mama und/oder Papa auch einfach mal kuscheln. Seit er ein Kleinkind war nahm er sich fast täglich die Stunden nach dem Mittagessen für sich und in dieser Zeit sollte ihn niemand stören und das war auch eigentlich allen schon immer klar gewesen. Während er meist zuerst schlief und dann noch mit einem Buch oder einem Spielzeug entspannte, hatte er sich heute dazu entschieden, es andersherum anzugehen.
Sanft fuhr Freda ihrem Kind über die Stirn um es zu wecken, da Lester auch noch etwas vom Nachmittag haben und am Abend gut einschlafen sollte. Ein Streicheln, das ihn langsam die Augen öffnen und seine Mama wohlig müde betrachten ließ. Und als sie gerade begann, ihr Kindchen auspacken und anschließend noch wie immer mit ihm zu schmusen, bahnten sich sanfte Klaviertöne den Weg durch die einen Spalt geöffnete Schlafzimmertür. Ein Lächeln kam ihr über die Lippen, das den Ausdruck der Verwunderung im Gesicht ihres Sohnes bestätigte, der darauf aber auch nur lächelte und etwas zügiger als sonst begann sich aus seinen Schlafsachen zu befreien. Dankbar lies er sich noch in seine Lieblingshose, die mehr Sack als Hose war, helfen, verzichtete auf ein Oberteil, da der Hosenbund von Bauch bis über die Brust ging und machte sich auf den Weg in das Klavierzimmer.
Ein warmes Gefühl machte sich in seinem Bauch breit, als er kurz im Türrahmen verweilte. Es war seine Tante Aleena, die wohl auch noch seine gewohnte Mittagszeit in Erinnerung hatte. Und auf einmal fühlte er sich wie vor 4 Jahren, als Regelmäßig die weichen Klaviertöne die Mittagsruhe des damals Sechsjährigen beendeten. Ein glückliches Kribbeln erfüllte ihn in diesem Moment, der nach langer Zeit noch immer so vertraut schien, als hätte er sie erst gestern zuletzt spielen gehört. Und dann war da das Lied, das er so sehr liebte und auch noch ganz regelmäßig vorgesungen bekam.
“Lay down your head and I′ll sing you a lullaby
Back to the years of loo-li lai-lay”
Back to the years of loo-li lai-lay”
Begann der Zehnjährige in seiner glockenhellen Stimme die sanften Klaviertöne zu begleiten, die das Lied spielten, das ihn eigentlich so oft in den Schlaf brachte anstelle ihn wieder unter den Wachen zu begrüßen. Ganz ruhig durchquerte er den Raum in Richtung seiner Tante, die bis gerade anscheinend noch ihre Augen geschlossen hatte.
“And I'll sing you to sleep and I′ll sing you tomorrow
Bless you with love for the road that you go”
Bless you with love for the road that you go”
Schon immer hatte er ein gutes Gehör und ein Gefühl für seine Stimme gehabt. Aber singen tat er nur, wenn er sich wohl fühlte und niemand ihn drängte. Wenn er mit jemanden so freiwillig sang, bedeutet das etwas. Friedlich nahm er auf der Klavierbank neben seiner Tante Platz, legte seinen Kopf achtsam an deren Schulter und hielt so die wohlklingenden Töne bis zur nächsten Strophe inne.
“May you sail fair to the far fields of fortune
With diamonds and pearls at your head and your feet
And may you need never to banish misfortune
May you find kindness in all that you meet”
With diamonds and pearls at your head and your feet
And may you need never to banish misfortune
May you find kindness in all that you meet”
Es war damals ein schweres Los, ein Unglück, für Lester gewesen, als der Mann aus dem Norden seine Tante zu sich genommen hatte. Die Wochen nach ihrem Auszug hatte der noch Sechsjährige sie regelmäßig gesucht, die Stunden mit ihr schmerzlich vermisst und sich gesorgt, wo sie denn nur war. Scheinbar hatte er die Permanenz ihres Gehens erst nicht realisieren können. Von da an galt die eben gesungene Strophe und der folgende Refrain nicht nur ihm, sondern auch stets Aleena, der es im Norden an nichts fehlen sollte.
“May there always be angels to watch over you
To guide you each step of the way
To guard you and keep you safe from all harm
Loo-li, loo-li, lai-lay”
To guide you each step of the way
To guard you and keep you safe from all harm
Loo-li, loo-li, lai-lay”
Für die nächsten unbegleiteten Töne legte er seinen Kopf wieder an seine Tante. Diesmal wog er schwerer, denn heute verstand er, dass die gemeinsame Zeit, die sie miteinander hatten vergänglich war. Seine Hand ruhte nun auch sanft in ihrem Schoß. Man spürte an der Art, wie Lester sang, wie sehr er dabei auch fühlte. Es war nicht einstudiert, es war natürlich.
“May you bring love and may you bring happiness
Be loved in return to the end of your days
Now fall off to sleep, I'm not meaning to keep you
I'll just sit for a while and sing loo-li, lai-lay”
Be loved in return to the end of your days
Now fall off to sleep, I'm not meaning to keep you
I'll just sit for a while and sing loo-li, lai-lay”
Er sehnte sich nach der Rückkehr seines Papas, er fehlte ihm. Bald würde er zurückkehren und das machte ihn genauso glücklich wie in diesem Moment die Zeit mit Aleena. Aber wenn Vater und Sohn wieder vereint waren, würde das Ende der Zeit mit seiner Tante bald erreicht sein. Leif würde sicher zügig zurück in die Heimat wollen.
“I'll just sit for a while and sing loo-li, lai-lay”
Schloss er das ihm so vertraute Schlaflied ab. Dabei ran ihm eine Träne über das Gesicht und sein Köpfchen fiel nun wieder langsam aber noch schwerer an Aleena. Das Lied, das ihn sonst so beruhigte, im schönen an seine Tante denken ließ und schnell in den Schlaf brachte, wühlte ihn plötzlich auf. Er wusste nicht wieso er weinte und ob es das Glück um die gemeinsame Zeit, die Trauer um den baldigen Abschied oder die Wut auf ihren Ehemann war. Er nahm nur ein Gemisch aus Emotionen wahr, wobei die einen ihn das Herz erwärmten und die anderen es sich wieder zusammenziehen ließen. Während das Lied ein großes „Ich habe dich lieb“ bedeutete, war es nun nicht mehr ganz so leicht, zu wissen, was er spürte. Er schluchzte ein einziges Mal, hing aber ansonsten beinahe lethargisch da und starrte auf das Klavier. Lester brauchte einen Moment.
