10-07-2024, 18:03 - Wörter:

“Ich glaube, ich hab an Präzision verloren”, grub der Kronprinz den Kopf seiner Axt in den aufgewühlten Boden und stützte sich auf den Stiel. Hakon brummte und verschränkte die Arme vor der Brust. “Wundert mich nicht. Du hattest anderes im Kopf und hast nicht in deinem gewohnten Umfeld trainiert.” Das waren alles Wahrheiten, die Leif selbst wusste und schon zur Genüge durchgekaut hatte; ein weiterer Grund, warum ihm seine Routine hier zu Hause so wichtig war. Selbstkritisch runzelte er die Stirn und blinzelte in den Himmel, der um diese Jahreszeit mit einem ganz blassen, grauen Film überzogen war, aber nicht genug, um die Kraft der Sonne einzuschränken. Hätte Leif nicht trainiert, wäre ihm trotzdem warm gewesen. Dem leichten Pochen in seinem Hinterkopf nachgebend, schulterte er seine Axt und stellte sie gegen die Brüstung neben Hakon, der ihm eine Schöpfkelle mit klarem Brunnenwasser reichte. “Tyr hat nach dir gefragt, ob du dir die neuen Rekruten anschauen und ein paar Worte an sie richten kannst. Junge Burschen, grad aus dem Ei gepellt, wenn du mich fragst.” Wie gesagt, Routine. Auch wenn es sich in diesem Fall nur um die Nachwuchsgeneration der Königswache handelte, gehörte das zu einem seiner liebsten Aufgaben. Da er mit Trinken beschäftigt war, gierigen Schlücken, nickte er nur und wollte, gerade, wo er mit dem Handrücken über seine Mundwinkel fuhr, seine verbale Zustimmung geben, da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Magd auf sich zukommen. “Eure Majestät. Der König erwartet Euch in seinem Arbeitszimmer”, verbeugte sie sich. Das überraschte Leif nicht, der nur mit den Schultern zuckte und die Kelle zurück in den Eimer fallen ließ. “Das muss noch warten, ich habe von einem Krieg zu berichten.” Kameradschaftlich klopfte er seinem Lehrmeister auf die Schulter und zog sich beim Gehen auch endlich sein Hemd wieder über.
Mit zügigem, zielsicherem Gang schritt Leif durch die vertrauten Gänge und das Treiben, das bereits effektiv dabei war, dem Chaos der gestrigen Nacht Herr zu werden. Obwohl er mehrere Wochen abwesend gewesen war, sah man ihn schon wieder als einer der ihren und so fand das Burgleben um ihn herum statt, anstatt von ihm gestört zu werden. Man grüßte ihn und er grüßte zurück, irgendwann kam Luitwin aus dem Hinterhalt angerannt mit einer gestressten Freja im Schlepptau und Leif blieb kurz stehen, um seinen kleinen Bruder am Arm zu packen und ihm mit einem kräftigen Haarewuschler auf die Nerven zu gehen. “Wir haben dich gesucht! Es gibt gleich Mittag.” “Hm, ich komm dann nach, ihr müsst nicht auf mich warten.” “Ich hab dir doch gesagt, dass er zutun hat”, mischte Freja sich ein. “Vater will mich sehen. Nächstes Mal, ja?” “Kann ich mitkommen?” “Nein.” Ein beleidigter Luitwin war kein angenehmer Geselle, aber er nahm das Wort seines Bruders wenigstens ernst und ließ ihn ziehen.
Ohne zu klopfen und sich sonst irgendwie anzustellen, trat Leif in das Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich, sofort den Umschwung von laut und geschäftig zu ruhig und gediegen registrierend. Er kam auch nicht umhin, das Mittagessen - oder Frühstück? - zu riechen, so wie es unangetastet auf einem Tablett stand. Seine Augen hingegen fanden sofort den Mann, dessen Präsenz immer noch den Raum kommandierte, obwohl er außergewöhnlich müde lächelte; jetzt durfte er sich den Raum mit jemandem teilen, der ebenfalls in seiner Gestalt wachsen und mindestens die Hälfte des Raumes einnehmen konnte. Leif neigte respektvoll seinen Kopf. “Vater.” Wieder sah er auf und stellte noch einmal fest, dass er wirklich müde aussah. Dennoch ließ das Lächeln des alten Bären auch seine Züge weicher werden. “Ehrlich? Ich hab lange nicht mehr so gut geschlafen wie heute. In Spring’s Court parfümieren sie sogar die Decken, oder was weiß ich, vielleicht war ich auch so benebelt vom Badewasser, dass ich überall nur noch Rosen gerochen habe.” Lächelnd schüttelte er in Erinnerungen den Kopf und verbannte jene in eine Ecke, die er im Beisein von Aleena wieder aufmachen würde. Entgegen seiner Erwartungen… war es in ihrer Heimat gar nicht so schlimm gewesen. Wenn er selbst nur nicht so unerträglich nach der Schlacht gewesen wäre, was ihm im Nachhinein sogar ein bisschen leid tat.
“Was habe ich verpasst?”, fragte er, bevor er seinen Blick auf die Zeichnung in der Hand seines Vaters fallen ließ. Im Grunde genommen versuchten sie doch beide, den Bären im Raum zu umschiffen und sich so gemütlich wie möglich an das Thema heranzutasten, von denen sie beide wussten, dass es zwischen ihnen stand. Niemand wollte eine Ankunft mit ernsten, wenig erfreulichen Themen besudeln, aber irgendwann mussten sie es tun. Wenn sie beide nicht Mann genug waren, sich über die Zukunft des Landes zu unterhalten, wer sollte es dann tun?