14-09-2024, 10:34 - Wörter:

Mit schmaleren Lippen als sonst nickte er verstehend auf die Aufforderung seines Vaters. “Natürlich”, stimmte er ihm zu und runzelte die Stirn, denn er wusste noch nicht so recht, wie er mit der Aufgabe umgehen sollte. Die Aussicht, bald die Familie jedes verstorbenen Kriegers vor sich zu haben und ihnen von dem Tod des Sohnes, Bruders und Ehemanns zu berichten, ließ den Knoten in seiner Brust wachsen. Jeden, der es wagen würde, Leif eine Nachricht vom Tod Jorins zu überbringen, würde er vermutlich zu Brei schlagen; schlimmer aber war die Erinnerung an die wenigen Situationen, wo tatsächlich Tränen aus Frust und Hilflosigkeit seine Sicht vernebelt hatten. Noch nie war er sonderlich gut darin gewesen, mit Tränen umzugehen. “Ich nehme die Helme mit, auf dass ihre Söhne und Töchter sie tragen werden. Können wir den Familien eine Entschädigung anbieten?” Kein Gold der Welt wog für den Verlust eines Familienmitglieds auf, aber in Leifs Augen war es dennoch eine Geste, die sich gehörte. Für den nahenden Winter konnte jedes Gold gebraucht werden, das für die zwei fehlenden Hände aufkam.
Schnell, aber effektiv überflog Leif die eingezeichneten Routen, während er den Erklärungen seines Vaters lauschte. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen glättete sich, je mehr sie sich in bekannte Gebiete, die Kriegsplanung, wagten. Strategie, keine Gefühle. Pragmatismus, kein Mitgefühl. Verantwortung, mit der er zumindest zu wissen glaubte, umzugehen. Er war es gewöhnt, Arialds Gemurmel in den Bart hinzunehmen und ebenso als wichtige Informationen wahrzunehmen wie seine klaren, in Autorität gesprochenen Worte.
Leifs Blick folgte dem Finger und er lehnte sich mit gespreizten Fingerkuppen über den Tisch, um die eingezeichneten Grenzen um Wolfsmark zu betrachten. Unweigerlich schlich sich ein Leuchten in seine Augen, als Ariald das Versprechen von Schutz in den Raum warf, denn Schwester und Tochter hin oder her, es war Erik, der ihm zuerst in den Sinn kam; er und all die Barbaren, die sich lautstark unter seinem Kampfschrei vereinten. “Sollte Augusto es wirklich wagen, unsere Grenzen zu passieren, wird er sich an Wolfsmark die Zähne ausbeißen.” Leif verwettete seine Axt darauf, dass in und um Wolfsmark nicht nur Frau und Mann, sondern auch Kinder wussten, wie man Waffen führte. Dass er seine Annahme mit einer blonden Jägerin belegen konnte, die nicht nur Hirschen und Vögeln zwischen die Augen schießen würde, wenn es die Situation verlangte, behielt er dabei für sich.
“Angespannt”, antwortete er ehrlich und ließ seinen Blick weiter östlich in Richtung von Eastergold Meadow wandern, am Rande registrierend, dass sein Vater die Wolfsfigur bewegte. “Es mögen nicht viele Menschen umgekommen sein, aber Gebäude und Infrastruktur wurden in Mitleidenschaft gezogen. Eine wilde Soldatengruppe hat gemeint, den ansässigen Wirt zu belästigen, seine Stube zu verwüsten und als er sich zwischen sie und seine Tochter gestellt hat, wurde er windelweich geprügelt.” Noch ein Punkt, den der Kronprinz gerne kontrolliert hätte, aber er wusste selbst, wie Feiern eskalieren konnten. Wäre es nicht der Kollateralschaden gewesen, hätte er darüber noch hinwegsehen können, doch in diesem Fall bahnte sich über seiner Miene ein kleines, kaum verschleiertes Gewitter an. “Es waren hauptsächlich Söldner, aber auch welche von uns. Ich hab sie persönlich rangenommen, aber wir konnten uns nicht mehr am Wiederaufbau beteiligen. Hätte ich sie anordnen sollen, länger zu bleiben?” Zurückgelassen in einer Heimat, die nicht ihre war, bestraft dadurch, ihr eigenes Zuhause erst im Nachzug zu sehen und nicht an den heimischen Feierlichkeiten teilzuhaben? Es gab viele Dinge, die Leif in Zukunft besser machen wollte; viele Dinge auch, die er ändern wollte.
“Vater…”, begann er und sein Blick begehrte auf, konfrontativ, aber niemals respektlos oder sich in sonst einer Weise über die Autorität des Königs stellend. “Wir müssen unsere militärische Struktur ändern. Ob zur Verteidigung oder zum Angriff, es macht keinen Unterschied, wenn wir weiterhin ein Haufen wilder Barbaren sind.” Vielleicht waren seine Worte hart für jemanden, der selbst als einer aufgewachsen war, aber das gab ihm eben genau das Recht, so über sie zu urteilen. Die feste Handfläche, auf die er sich stützte, verriet, dass er es ernst meinte. “Wir mögen die stärksten Krieger auf dem Kontinent haben - unserer Auffassung nach - aber wir haben keine Disziplin. Unsere Krieger tun auf dem Schlachtfeld, was sie wollen. Es ist, als würde man gegen eine Wand mit eigenem Kopf brüllen. Wie wollen wir so unsere Grenzen schützen?” Leif, der zum ersten Mal an der Spitze gestanden und Befehle gegeben hatte, sprach aus seinem Herzen, aber statt seiner Frustration mehr Boden zu geben, hatte er sich dazu entschieden, den Boden mit Entschlossenheit zu nähren. So wichtig, wie ihm seine Träume von etwas Größerem waren, lag seine Liebe für sein Heimatland mindestens genauso nah an seinem Herzen und er wird nicht zusehen, wenn sie unvorbereitet wie kopflose Hühner in kaltes Wasser sprangen. Als Kronprinz war er dafür verantwortlich, dass seine Untertanen sich nicht nur selbst zu schützen wussten, sondern auch als Einheit funktionierten.