20-06-2025, 11:37 - Wörter:

Und zugegeben, auf dumme Ideen kam sie auch ganz ohne Caeus Zutun. Schwer schlossen sich ihre Lider und öffneten Aurelia eine neue Welt aus Schatten, Geräuschen und den kleinen Steinen unter ihren Fußsohlen. Unweigerlich lehnte sie sich in die Wärme zu ihrer Seite, aber sie übergab dem Söldner nicht vollständig die Kontrolle und ließ sich nicht von ihm ziehen. Ihre Schritte waren sicher, vielleicht hin und wieder von einem kleinen amüsierten Kichern begleitet, weil ein unerwarteter Schatten über ihre Augen huschte, aber mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die schon oft blind durch die Gegend gelaufen war. Es war wie früher, als sie das gleiche Spiel mit ihrer Schwester gespielt hatte, Hand in Hand die eine mit einer Binde um die Augen, weil sie sonst schummelten (oder zumindest davon überzeugt waren, dass die anderen schummelten). Während die eine also den verzwicktesten Weg wie nur möglich durch die Gassen suchte, achtete die andere auf jede Abzweigung, jedes Geräusch, jeden Geruch. Und auch jetzt, trotz fehlender Augenbinde, erwischte Aurelia sich dabei, wie sie den Richtungswechseln aufmerksam folgte und versuchte, die Richtung zu erraten, die sie anstrebten. Trotzdem gab sie einen überraschten Laut von sich, als sie abrupt stehen blieben.
Als sie die Augen wieder öffnete, war nicht die Kathedrale das Erste, was sie ins Auge fasste. Bei dem Anblick des mit Marmor bekleideten Platzes vor der Kathedrale kräuselte sich ihre Nase.
„Hm, hab mir schon gedacht, dass du hierhin willst.“
Es lag kein Urteil in ihrer Stimme, kein Du hättest dir ruhig was Ausgefalleneres überlegen können. Hier ging es ja auch nicht um Caeus, sondern um den Test, dem sie sich selbst unterzogen hatte; der Beweis, dass Zeit einen nicht gleich alt machte, und Gewohnheit tiefer in den Knochen steckte als regelmäßiges Üben. Dann glitt ihr Blick rüber zu ihm und wenig später legte auch sie ihren Kopf in den Nacken, die Spitze des Glockenturms betrachtend, wie er sich dunkel und mächtig vom Sternenhimmel abhob. „Das ist ganz schön hoch. Runterfallen war wohl keine Option, hm?“
, kommentierte sie seine Geschichte und konnte nicht verhindern, sich zu vergleichen. Ob sie das Gleiche getan hätte, hätte man sie dazu herausgefordert? Mit einem langen Rock, am besten noch in Sonntagsmanier, wäre Mutter Glück wahrscheinlich weniger auf ihrer Seite gewesen.Ein aufkeimendes Gefühl kitzelte sie, und wieder kräuselte sie ihre Nase, während sie den Haarknoten auf ihrem Kopf noch einmal etwas fester zog.
„Klar, warum nicht“
, zuckte sie mit den Schultern und nahm das unterschwellige Angebot an. Kaum zwei Schritte, die sie gegangen war, blickte sie noch einmal über die Schulter und schenkte Caeus einen Blick, in dem der Schalk tanzte, nur ein Versprechen auf den Lippen: „Ich bin mir sicher, der Anblick wird anders sein, als du ihn in Erinnerung hast.“
Natürlich war Aurelia nicht lebensmüde genug, um es den Erzählungen gleichzutun und sich am Klettern zu versuchen. Mit nüchternem Kopf, vielleicht, mit mehr Gefühl für Gleichgewicht und einer besseren Sicht auf die Vorsprünge in den Mauern. Aber sie hatte nicht überhört, wie ein kleiner Anflug von Nostalgie in Caeus Stimme festgesessen hatte, und eventuell war sie noch nicht fertig damit, ihn aufzuziehen und zu provozieren, bis er doch ein wenig von dem jungen Geist zeigte, der da noch irgendwo in dieser alten, verhärteten Schale steckte. Kaum hatten sie die Hälfte des Platzes überquert, da wandte sie sich ihm doch noch einmal zu. Es war der Moment vor dem Aufbruch, der stille Moment vor der Explosion, und Aurelia verriet ihr Vorhaben wahrscheinlich schon, bevor sie ihren Rock in die Hände nahm und plötzlich los sprintete. „Wer als letzter oben ist, ist ein alter Mann!“
, hallte ihre Stimme über den Platz, da riss sie auch schon das Kathedralentor auf.